Wie gesund ist die Meeresumwelt von Nord- und Ostsee? Seevogelmonitoringdaten verraten mehr

Wie gesund ist die Meeresumwelt von Ostsee, Nordsee und dem übrigen Nordostatlantik? Das beantworten zwei umfassende Bewertungen, die 2023 abgeschlossen und von den Meeresschutzkommissionen OSPAR und HELCOM vorgelegt wurden.


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Die beiden Kommissionen sind zuständig für die Umsetzung der internationalen Meeresschutz-Konventionen OSPAR für den Nordostatlantik mit der Nordsee (https://www.ospar.org/about) bzw. Helsinki-Konvention für die Ostsee (https://helcom.fi/about-us/). Die zwei Übereinkommen basieren auf vorangehenden Konventionen aus den Jahren 1972 bzw. 1974 zum Schutz der Meeresumwelt vor Verschmutzungen. Beide wurden im Jahr 1992 erneuert und umfassend erweitert. OSPARs Ziel ist ein sauberer, gesunder und biologisch diverser Nordostatlantik, der produktiv ist, nachhaltig genutzt wird und die Belastungen durch Klimawandel und Meeresversauerung abfedern kann. Die Vision der Helsinki-Kommission HELCOM ist eine gesunde Ostsee, deren diverse biologische Komponenten in Balance zueinander funktionieren und darüber einen guten Umweltzustand erreichen sowie eine Vielzahl von nachhaltigen ökonomischen und sozialen Aktivitäten ermöglichen.

OSPAR und HELCOM führen in regelmäßigen Abständen umfassende Bewertungen des Umweltzustands von Nordostatlantik und Ostsee durch, die den Fortschritt hinsichtlich der Erreichung dieser Ziele beurteilen und als Grundlage für Managemententscheidungen in Naturschutz und mariner Raumordnung und -nutzung dienen. Im Jahr 2023 haben beide Kommissionen ihre neuen Berichte dazu vorgelegt, OSPAR den Quality Status Report 2023 (QSR23) und HELCOM das 3. Holistic assessment (HOLAS3). Diese umfassen vielschichtige Bewertungen mit Hilfe einer Vielzahl unterschiedlicher Indikatoren, die in thematischen Bewertungen zusammengefasst werden. Bewertet werden Biodiversität, Sozio-Ökonomie, Belastungen der Umwelt durch menschliche Aktivitäten sowie Auswirkungen durch Klimawandel, Meeresversauerung und Eutrophierung. Der Zustand der Biodiversität wird anhand von Indikatoren bewertet, die auf Daten zu Habitaten, Meeressäugetieren, Seevögeln, Fischen und Nahrungsnetzen sowie Meeresschutzgebieten und bestimmten Gefährdungen basieren.

Bei den Seevögeln wird die Abundanz in der Brutzeit und außerhalb der Brutzeit betrachtet, der Bruterfolg, die Qualität ihres Habitats sowie der Beifang von Vögeln in der Fischerei. Von besonderer Relevanz ist die Abundanz, die Auskunft gibt über Entwicklungen auf Bestandsebene und somit die Auswirkungen anderer Parameter integriert. Bisher wurde die Seevogelabundanz sowohl in OSPAR- als auch HELCOM-Bewertungen ausschließlich mittels Daten aus landbasierten bzw. landnahen Erfassungen analysiert. Für die Abundanz zur Brutzeit wurden Bestandszahlen von Brutvögeln untersucht. In die Analyse der Abundanz außerhalb der Brutzeit gingen Daten aus landbasierten bzw. küstennahen Erfassungen ein, wie den internationalen Wasservogelzählungen (Sudfeldt et al. 2012) und dem Trilateralen Monitoring Programm (TMAP, Kleefstra et al. 2022), die Ergebnisse zum Vorkommen von rastenden Wasservögeln in küstennahen Meeresbereichen liefern.

Mit Hilfe dieser Abundanzdaten aus dem küstennahen Raum lassen sich jedoch nur eingeschränkt Aussagen zum Umweltzustand des marinen Raums treffen. Damit können die Anforderungen der EU Meerestrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL) nur unzureichend erfüllt werden. Die gemeinsame Seevogelexpertengruppe von OSPAR, HELCOM und ICES (JWGBIRD) hat sich deshalb darauf verständigt, die Seevogel-Abundanzindikatoren durch Hinzunahme von Daten zur Abundanz von Seevögeln auf See zu ergänzen (ICES 2015, 2017). Diese Seabirds at Sea-Daten werden im Rahmen international standardisierter Erfassungen (Camphuysen et al. 2004) erhoben und liegen für die bei Seevogelbewertungen betrachtete Periode ab 1990 vor.

Nach umfangreicher konzeptioneller Vorarbeit (ICES 2017, Mercker et al. 2021) und der Revitalisierung der gemeinsamen europäischen Datenbank für Seabirds at Sea-Daten (ICES, in Vorb.), konnten im Rahmen von OSPAR QSR23 und HELCOM HOLAS3 nun erstmals Offshore-Daten in die Bewertungen einbezogen werden.

Herzlichen Dank an dieser Stelle für Datenmanagement und -bereitstellung an Henriette Schwemmer, Jana Kotzerka, Stefan Garthe, Johannes Wahl, Nicolas Vanermen und insbesondere an die unzähligen Observer, die Seevögel auf See und an Land erfasst haben. Die Aufbereitungen und Analysen wurden vom Bundesamt für Naturschutz finanziert (zuständiges Fachgebiet: II 3.2 Meeresschutzgebiete in der AWZ; Mirko Hauswirth, Jochen Krause).

Aus Zeit- und Kostengründen sowie einer unterschiedlich guten Verfügbarkeit und Belastbarkeit von Daten wurden zunächst nur eine Auswahl von Arten und Regionen betrachtet. In der Ostsee wurde eine Bewertung für die Eisente in der deutschen Ostsee durchgeführt (HELCOM 2023a). Im Nordostatlantik wurde die Offshore-Abundanz von sieben Seevogelarten in der südlichen Nordsee basierend auf Daten aus den Meeresgebieten von Belgien, den Niederlanden und Deutschland untersucht (Dierschke et al. 2022a). Dabei wurde jeweils die Abundanz aus der Bewertungsperiode (2015-2020 bei OSPAR, 2016-2021 bei HELCOM) mit der Abundanz in der Referenzperiode zu Beginn der Datenreihe (OSPAR: 1991-2000, HELCOM: 1986-1997) verglichen. Um jeweils eine Verschneidung mit den Ergebnissen aus dem etablierten Wintervogel-Abundanzindikator zu ermöglichen, wurden in allen Fällen nur Daten aus dem Winter analysiert (Dezember-Februar).

Die Bewertung in den Abundanzindikatoren orientiert sich am Verhältnis der Abundanz zwischen Berichts- und Referenzperiode: Arten, deren Abundanz im Berichtszeitraum mindestens 70 % der Abundanz im Referenzeitraum beträgt, werden als in „gutem Zustand“ befindlich eingestuft (Dierschke et al. 2022a, 2022b, HELCOM 2023a). Für Arten, die nur ein Ei legen, gilt sogar ein Grenzwert von mindestens 80 %, da sie sich voraussichtlich schlechter von Bestandsrückgängen erholen als Arten, die potenziell mehr als ein Küken pro Jahr und Paar hervorbringen.

Ergebnisse HELCOM: Massive Bestandsrückgänge bei der Eisente in der deutschen Ostsee

Eisenten
Eisenten offshore vor Rügen. Foto: Harro H. Müller

Im Vergleich zur Referenzperiode sind die Zahlen in der deutschen Ostsee überwinternder Eisenten um zwei Drittel gesunken. Während 1986-1997 im Mittel 1.500.000 Eisenten in der deutschen Ostsee überwintert haben (95 % KI: 1.200.000 – 1.900.000), waren es in der Berichtsperiode 2016-2021 nur noch 500.000 Individuen (95 % KI: 450.000-550.000, HELCOM 2023a).

In den Zahlen der Wasservogelzählungen fiel die Abnahme mit ca. einem Drittel weit weniger stark aus. Da allerdings mit 90 % der Großteil des deutschen Eisenten-Winterbestands im Offshorebereich anzutreffen ist und die Ergebnisse entsprechend der Bestandsanteile gewichtet werden, bleibt es in der Kombination bei einer starken Abnahme um 65 %. Daraus ergibt sich die Beurteilung, dass die Winterabundanz der Eisente die Anforderungen für einen „guten Zustand“ nicht erreicht, bzw. weit davon entfernt ist.

Abbildung 1
Abbildung 1. Jährliche Abundanzschätzungen und 95 % Konfidenzintervalle für den Winterbestand der Eisente in der deutschen Ostsee

Der Bestandseinbruch ereignete sich nach den jährlichen Abundanzschätzungen in den 1990er Jahren (Abbildung 1). In den Jahren ab 2000 sank der Bestand zunächst um 40 % weiter ab (Markones 2019), zeigte ab etwa 2009 jedoch eine positive Entwicklung (DDA, unveröff.). Trotz des zuletzt signifikant positiven Trends (Gerlach et al. 2019), bleibt der deutsche Winterbestand der Eisente auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau (Abbildung 1).
Da ab dem Jahr 2000 ein methodischer Wechsel in den Datenerhebungen erfolgte, können im Fall der beobachteten Rückgänge auch methodische Effekte nicht ausgeschlossen werden. Es wird jedoch angenommen, dass die starke Abnahme der Eisente real ist, da ähnliche Trends weiträumig in der gesamten Ostsee mit verschiedenen Erfassungsmethoden und Analyseverfahren nachgewiesen wurden.

So errechneten Skov et al. (2011) für die gesamte Ostsee einen Bestandsrückgang der überwinternden Eisenten von ebenfalls 65 % für den Zeitraum zwischen 1992/1993 und 2007-2009. Dieser Rückgang spiegelte sich auch im Zuggeschehen der Eisenten im Frühjahr durch den Finnischen Golf wider, das starke Abnahmen zwischen 1992 und 2000 verzeichnete (Rintala et al. 2022). Ab dem Jahr 2010 trat eine leichte Erholung der Durchzugszahlen ein. In der östlichen deutsche Ostsee fielen die Dichten überwinternder Eisenten zwischen 1992/1993 und 2006-2012 sogar um 82 % (Bellebaum et al. 2014).

Sowohl in der gesamten Ostsee als auch im deutschen Meeresbereich hat der Winterbestand der Eisente also seit den 1990er Jahren massive Rückgänge erfahren. Nach den anfänglichen starken Abnahmen zwischen 1990 und 2000, setzte sich der Rückgang in geringerem Maße bis ca. 2010 fort. Trotz der zuletzt verzeichneten Bestandszunahme erreichen die Zahlen überwinternder Eisenten längst nicht das Niveau früherer Jahre. Neben Gefährdungen im Brutgebiet wird die Populationsentwicklung der Eisenten durch die Bedingungen im Überwinterungsgebiet limitiert: Sind diese nicht ausreichend gut, resultiert das in einer schlechteren Kondition, die zu Brutausfällen und erhöhter Sterblichkeit führen kann (Rintala et al. 2022).

In der deutschen Ostsee hält sich im Winter mehr als ein Viertel der gesamten Eisentenpopulation auf (vgl. Hearn et al. 2015). Deutschland hat also ganz besondere Verantwortung für den Schutz und Erhalt dieser Art. Umso kritischer ist es zu sehen, dass Eisenten in ihrer sensiblen Erholungsphase weiterhin durch menschliche Aktivitäten in den deutschen Seegebieten zu Tode kommen und ihr Lebensraum bedroht wird. Die ausgewiesenen Meeresschutzgebiete bieten zwar 85 % der hier überwinternden Eisenten theoretisch Schutz (Gerlach et al. 2019). Aber auch hier sind Eisenten weiterhin Belastungen ausgesetzt, die ihre Nahrungsbedingungen herabsetzen, über Störungen, z.B. durch Schiffe, zu einer schlechteren Energiebilanz und damit verminderten Kondition führen und im Fall von Beifang in den Stellnetzen der Fischerei sogar zum Tode führen. Die Entwicklung und Umsetzung geeigneter Schutz- und Managementmaßen und die Berücksichtigung der Lebensraumanforderungen von Meeresenten in Genehmigungsverfahren und Raumordnungsplanungen muss unbedingt folgen, damit die deutschen Meeres(schutz)gebiete ihrer Rolle als echte Schutzräume tatsächlich gerecht werden.

Ergebnisse OSPAR: Für einige Arten erstmals Bewertungen möglich

In den Meeresgebieten von Belgien, den Niederlanden und Deutschland in der südlichen Nordsee verzeichneten die Winterbestände von Trauerente, Silbermöwe und Mantelmöwe zwischen der Referenzperiode von 1991-2000 und der Berichtsperiode 2015-2020 deutliche Einbrüche und blieben damit weit vom guten Zustand entfernt (Dierschke et al. 2022a). Mantelmöwen gingen um 62 % zurück, Trauerenten um 72 % und Silbermöwen sogar um 95 % (Abbildung 2). Die Winterzahlen von Basstölpel, Trottellummen und Dreizehenmöwen nahmen dagegen deutlich zu und erhielten damit die Bewertung „im guten Zustand“. Basstölpel und Trottellummen verdreifachten ihren Winterbestand, die Winterzahlen von Dreizehenmöwen stiegen um 30 %. Der Bestand von Sterntauchern sank zwar im Vergleich zur Referenzperiode um 9 %, bewegte sich damit aber immer noch innerhalb der für den „guten Zustand“ definierten Grenzen. Der negative Bestandstrend des Sterntauchers setzte sich auch innerhalb der Bewertungsperiode 2015-2020 mit einem Rückgang um 18 % signifikant weiter fort.
Die zuvor deutlich positive Bestandsentwicklung des Basstölpels kehrte sich innerhalb der Bewertungsperiode in einen signifikant negativen Trend von -19 % um (Abbildung 3). Trottellummen nahmen innerhalb dieses Zeitraums um 12 % signifikant weiter zu. Bei allen anderen Arten gab es keine signifikanten Bestandsveränderungen über den Zeitraum 2015-2020. Die Bestandszunahme der Dreizehenmöwe bzw. Abnahmen von Trauerente, Silber- und Mantelmöwe hatten sich also schon im Zeitraum davor zugetragen (siehe auch Abbildung 2).

Silbermöwe
Foto: Christoph Moning
Abbildung 2
Abbildung 2. Jährliche Abundanzindizes (rote Punkte) und entsprechende gleitende Mittelwerte über 6 Jahre (graue Linie) für Silbermöwen in der Nordsee von Belgien, den Niederlanden und Deutschland im Winter 1991-2020. Der Grenzwert (threshold) liegt bei 0,7 des Indexwerts vom Beginn der Zeitreihe, der auf 1 gesetzt wurde. Da die Silbermöwenzahlen über die Referenzperiode von 1991-2000 einen signifikanten Trend zeigten, wurde nicht der Mittelwert aus dieser Periode als Basisindex verwendet, sondern der (berechnete) Wert von 1991 (grüner Punkt). Für die Bewertung wird der letzte 6-Jahres-Mittelwert (assessment) herangezogen.

Basstölpel
Foto: Karsten Berlin
Abbildung 3
Abbildung 3. Jährliche Abundanzindizes (rote Punkte) und entsprechende gleitende Mittelwerte über 6 Jahre (graue Linie) für Basstölpel in der Nordsee von Belgien, den Niederlanden und Deutschland im Winter 1991-2020. Der Grenzwert (threshold) liegt bei 0,7 des mittleren Indexwerts der Referenzperiode 1991-2000, der auf 1 gesetzt wurde. Da die Basstölpelzahlen über die Referenzperiode von 1991-2000 keinen signifikanten Trend zeigten, wurde der Mittelwert aus dieser Periode als Basisindex verwendet (grüne Linie). Für die Bewertung wird der letzte 6-Jahres-Mittelwert (assessment) herangezogen.

Ein Vergleich der Ergebnisse der Offshore-Daten mit den Indikatorergebnissen der landbasierten/küstennahen Erfassungen (Dierschke et al. 2022b) ergibt einige Gemeinsamkeiten in Bezug auf die Bewertung, zeigt jedoch auch erhebliche Unterschiede auf.

Bei Silber- und Mantelmöwe werden die Abundanzen außerhalb der Brutzeit basierend auf den landbasierten Erfassungen als „nicht im guten Zustand“ eingestuft, die Rückgänge fallen hier jedoch im Küstenbereich deutlich weniger stark aus. Die küstennahen Zahlen der Silbermöwe gingen um 32 % zurück (vergleiche Offshore: 95 %), die der Mantelmöwe um 41 % (Offshore: 62 %). Ähnlich fielen bei beiden Arten die Änderungen im Brutvorkommen in der Nordsee aus. Die Silbermöwe verzeichnete Abnahmen von ca. 40 %, die Mantelmöwe von 43 %. Nicht auszuschließen ist, dass diese Unterschiede durch ein verändertes (räumliches) Verhalten ausgelöst werden. Möglicherweise führt das schlechtere Nahrungsangebot auf dem offenen Meer (weniger Beifang aus der Fischerei wird über Bord gegeben) zu einer Umorientierung in Richtung küstennaher oder gar terrestrischer Nahrungsplätze (siehe auch Mercker 2021).

Trauerente und Sterntaucher konnten in den bisherigen Indikatoranalysen auf Basis der landbasierten Erfassungen nicht betrachtet werden. Für Basstölpel, Dreizehenmöwe und Trottellumme wurden Bewertungen bisher nur auf Basis der Brutvorkommen ausgeführt, da ihr küstenfernes Vorkommen außerhalb des Erfassungsbereichs der landbasierten/küstennahen Zählungen liegt. Wie im Winter offshore, haben sich auch die Brutzahlen des Basstölpels nahezu verdreifacht. Ganz anders stellt sich das bei der Trottellumme dar, die zwar auch noch den „guten Zustand“ erreicht, deren Brutzahlen jedoch leicht, aber signifikant, abgenommen haben. Einen noch stärkeren Unterschied zwischen Winter- und Brutbestand in der Nordsee sehen wir bei der Dreizehenmöwe. Während die Winterzahlen um knapp 1/3 angestiegen sind, fielen die Brutzahlen um nahezu 2/3.

Diese deutlichen Unterschiede können zum einen auf räumliche Verlagerungen des Wintervorkommens hindeuten. Offshoredaten lagen für die aktuellen Analysen nur für den südlichen Bereich der Nordsee vor. Unklar ist, wie sich das Vorkommen in den anderen Überwinterungsregionen entwickelt hat. Außerdem ist zu beachten, dass es sich bei unseren Analysen um relative Abundanzvergleiche handelt. Dadurch wird nicht deutlich, in welchem quantitativen Verhältnis die gefundenen Zu- und Abnahmen zueinanderstehen. Für das Gebiet der südlichen Nordsee liegen keine Bestandsschätzungen der Wintervorkommen vor. Es ist also nicht genau bekannt, welchen Anteil der Population wir jeweils abdecken. Wir wissen aber, dass in der Nordsee nur ein kleiner Teil der nordostatlantischen Dreizehenmöwen-Population überwintert, während sich der größte Teil über den offenen Nordatlantik, westlich bis zur nordamerikanischen Ostküste, verteilt (Frederiksen et al. 2011).

Zum anderen können die Differenzen zwischen Brut- und Wintervorkommen jedoch auch aus saisonalen Unterschieden und/oder Unterschieden zwischen Brutvögeln und Gesamtpopulation (Brüter und Nichtbrüter) resultieren. Der Anteil der Nichtbrüter kann bei Seevögeln erheblich sein, nicht zuletzt durch die immaturen Tiere, die große Teile des Gesamtbestands ausmachen. Auch wenn die Situation zur Brutzeit für Arten wie Dreizehenmöwen in der Nordsee derzeit augenscheinlich schlecht ist, könnte zumindest die Hoffnung bestehen, dass die Bedingungen im Winter weniger schlecht ausfallen und sich der Gesamtbestand bisher noch auf einem guten Niveau hält. Der anhaltend schlechte Bruterfolg lässt jedoch keine positiven Prognosen für die weitere Zukunft zu (Frederiksen et al. 2022).

Ein Blick in die Zukunft zeigt generell immer weniger Potential für Bestandserholungen bzw. positive Bestandsentwicklungen von Seevögeln. Durch die zunehmende Intensivierung menschlicher Aktivitäten in der ohnehin bereits stark genutzten Nordsee bleibt immer weniger Raum für ungestörte Nahrungs- und Ruheräume für Seevögel und andere Meeresorganismen. Ein ganz bedeutender Faktor ist dabei der massive Ausbau der Offshorewindenergie, die bereits jetzt zu deutlichen Habitatverlusten bei einer ganzen Reihe von Seevögeln führt (Dierschke et al. 2016). Starke Auswirkungen wurden z.B. für Sterntaucher, Basstölpel, Dreizehenmöwe und Trottellumme festgestellt (Peschko et al. 2020a+b, 2021, Dierschke & Mercker 2022, Garthe et al. 2023). Insbesondere für Sterntaucher wird der Lebensraum in der südlichen Nordsee durch Offshorewindparks immer stärker eingeschränkt (Dierschke & Mercker 2022), so dass davon ausgegangen werden muss, dass diese Art schon bei der nächsten Bewertung nicht mehr den guten Zustand erreichen wird.

Mehrwert Offshore-Daten

Ohne die Offshore-Daten aus den Seabirds at Sea-Erfassungen wären die Bestandsabnahmen der Eisente in der Ostsee unterschätzt worden. Die Entwicklung der Zahlen im küstennahen Bereich spiegelt zwar die generelle Richtung des Trends im gesamten Bestand wider, aber nicht das volle Ausmaß der Bestandsveränderungen. Im vorliegenden Fall waren die Abnahmen auch in den landbasierten Erfassungen so stark, dass der „gute Zustand“ als nicht erreicht gilt. In anderen Fällen kann es jedoch zu Fehleinstufungen kommen, wenn nur die küstennahen Vorkommen betrachtet werden.

Das gleiche Bild ergibt sich für Silber- und Mantelmöwe in der Nordsee. Auch hier wurden die beiden Arten nach landbasierten und Offshore-Daten gleich bewertet, das massive Ausmaß der Bestandseinbrüche auf See spiegelte sich in den landbasierten Ergebnissen jedoch nicht wider.

Bei den anderen in der Nordsee betrachteten Arten lieferte die Hinzunahme der Offshore-Daten einen noch größeren Informationszugewinn. Trauerente und Sterntaucher konnten mit den bisherigen Indikatoranalysen auf Basis der landbasierten Erfassungen gar nicht betrachtet werden. Mit den Offshoredaten lässt sich nun zum ersten Mal eine Bewertung ihrer Abundanz in Hinblick auf deren Populationszustand erreichen.

Basstölpel, Dreizehenmöwe und Trottellumme wurden bisher nur auf Basis der Brutvorkommen bewertet. Die Hinzunahme der Offshoredaten lässt erstmals eine Bewertung der Abundanzen außerhalb der Brutzeit zu und liefert damit einen wichtigen Baustein für die Einschätzung der Gesamtsituation.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Hinzunahme der Offshore-Daten für die Indikatoren von OSPAR und HELCOM einen deutlichen Mehrwert bringt. Dies gilt sowohl für die Bewertung der Meeresgebiete im Allgemeinen (die Seevögel sind in diesem Kontext nur „Mittel zum Zweck“, um den Zustand der Meere zu beurteilen) als auch für die Einschätzung des Zustands der einzelnen Arten. Einige Arten konnten nun erstmals bewertet werden. Für andere Arten liegen nun wesentlich schärfere bzw. umfassendere Ergebnisse vor, welche die Betrachtung der zugrundeliegenden Prozesse und damit die Entwicklung möglicher abzuleitender Maßnahmen unterstützen. Dies ist von besonderem Interesse, da sich See- und Wasservögel sowohl in der Ostsee als auch im Nordostatlantik in der Gesamtschau nicht im guten Zustand befinden (HELCOM 2023b, OSPAR 2023) und somit dringend Maßnahmen erforderlich sind, um den guten Zustand zu erreichen.

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